Alles zu seiner Zeit – Vernissageansprache für Cornelia Schedlers Retrospektive in der Komturei Tobel, 7.9. 2019
von Patrik Schedler
Eine Rückschau – das ist eine Retrospektive – versammelt die in der vergangenen Zeit geschaffenen Werke an einem Ort während einer bestimmten Dauer, hier also die Werke von Cornelia, die sie über die Jahrzehnte erschaffen und gesammelt hat. Die kommenden zwei Wochen sind eine Art von Innehalten im Fluss der Lebenszeit. In jedem Werk liegt die gewirkte Zeit. Gewiss war Papier und Farbe schon vorher, aber erst durch das schaffende Wirken wurde daraus ein Werk. Das kann man als ein Behältnis bezeichnen, das zur erscheinenden Materie gewordene Zeit enthält. Das Schaffen selbst ist somit eine Transaktion von Lebenszeit zu einen räumlichen Gegenstand. Wenn man also ein Kunstwerk erwirbt, erwirbt man auch die im Gegenstand enthaltene Schöpfungszeit des schaffenden Wesens, also Werk gewordene Lebenszeit der Künstlerin.
Wir sind schon mitten in der vielfältigen Problematik dessen, was Zeit ist und nicht ist. Und ja: ich erläutere hier nicht Cornelias Kunstwerke, denn das ist bei schöner Kunst nicht notwendig. Schönes muss man nicht erklären, Schönes kann man sehen. Deswegen spreche ich heute vor allem über den Titel der Ausstellung und im besonderen über die Zeit:
Zum Beispiel so: In hundert Jahren sind wir alle tot, die hier versammelt sind. Wahrscheinlich aber gibt es diese Gemäuer noch und es gibt wahrscheinlich auch noch Menschen, die sich mit der Geschichte dieser Mauern beschäftigen und vielleicht erhalten sich sogar einige von Cornelias Werken. Menschen pflegen mit ihrem Geist in der Zeit zu reisen: in die Zukunft, wo wir noch nicht sind oder in die Vergangenheit, wo wir nicht mehr sind oder nie waren.
Ich könnte nun, um Euch fühlen zu lassen, was Zeit ist, vorgehen wie Martin Heidegger, der grosse deutsche Philosoph des 20. Jahrhunderts mit dem schlechten Geschmack für Politik, aber hoch begabt mit genialer Gedankentiefe. Er hat das Wesen der Zeit untersucht und philosophisch erschlossen. In einer grossen Vorlesung von 1929/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit) liess er seine Hörer die Langeweile philosophisch erfahren, indem er sie in die grosse Leere stürzen liess, in das Rauschen der reinen Existenz im leeren Verstreichen der Zeit. Aber eben: alles zu seiner Zeit. Eine Rede zu einer Ausstellungseröffnung wäre für dieses Experiment nicht adäquat – aber es bieten sich hier nahe liegendere Erlebnisse dafür, was Zeit ist. Sie ist, wie wir ihr Wirken erleben, die Gegenwärtigkeit des Gewordenen und Werdenden. Dieser Ort hier war einst eine Johanniter-Komturei, der Verwaltungssitz eines Ritterordens. Dann wurde der Thurgau gegründet. Aus dem säkularisierten Besitz der Klöster wurden Spitäler, Schulen, Erziehungsanstalten, Waisenhäuser, Altersheime und Gefängnisse, also lauter Behältnisse für Menschen, die durch den Staat einer besonderen Zeitordnung unterworfen wurden. Das wird hier besonders spürbar, wenn man durch den Zellentrakt wandert, wo jetzt Kunstwerke hängen. Wenn man jemanden einsperrt, nimmt man ihm die Bewegungsfreiheit. Mehr aber noch wirft man ihn in den Kerker der Ereignislosigkeit, in das Nichts der leeren Zeit. Gefangene empfinden die Langeweile oft weit traumatischer, als das Eingesperrtsein. (In gegen 200 Briefen von Gefangenen kommt fast in jedem das Wort Langeweile mindestens einmal vor. Vgl. NL Karlheinz Weinberger im Sozialarchiv Zürich) Im grossen Roman über die Zeit, in Thomas Manns ‚Zauberberg‘ lesen wir: „Wenn ein Tag wie alle ist, so sind alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden.“ (Thomas Mann. Der Zauberberg. Ausgabe Ex Libris, Zürich von 1939, S. 148) Wer ins Gefängnis gesteckt wurde, den bestrafte man mit der Langeweile, aus der doch alles Übel kommt.
„Wollte jemand die Scheidung verlangen, weil seine Frau langweilig ist,“ schrieb einst der grosse dänische Philosoph Sören Kierkegaard, „oder wollte man einen König absetzen, weil er langweilig anzusehen, (…) oder einen Minister entlassen, oder einen Journalisten mit dem Tode bestrafen, weil er entsetzlich langweilig ist, so wäre man nicht imstande damit durchzudringen. Was Wunder also, dass es rückwärts geht mit der Welt, dass das Übel immer mehr um sich greift, da die Langeweile zunimmt und Langeweile eine Wurzel alles Übels ist. Dies lässt sich vom Anbeginn der Welt her verfolgen. Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Von dem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt und wuchs an Grösse in genauem Verhältnis zu dem Wachstum der Volksmenge. Adam langweilte sich allein, dann langweilten Adam und Eva sich gemeinsam, dann langweilten Adam und Eva und Kain und Abel sich en famille, dann nahm die Volksmenge in der Welt zu, und die Völker langweilten sich en masse.“(Sören Kierkegaard. Entweder – Oder. München 2003. S. 332)
Dieses Problem haben wir ja gelöst, dank Fernsehen, Massentourismus und Internet. Heute hat niemand mehr Zeit für die Langeweile. Die globale Herrschaft der atomar synchronisierten Zeitordnung spannt jeden bis hinab in den Kindergarten und hinauf bis ins Sterbehospiz ein in ein sozial verordnetes Zeitmanagement, worin sogar die Auszeit streng reglementiert ist mit Spielgruppe, Ergotherapie und Freizeitaktivität und stirbt man nicht rechtzeitig auf der Palliativabteilung, fliegt man dort raus. Die totale Zerstreuung realisiert sich auch räumlich dadurch, dass man ja die Ferien nicht mehr zu Hause verbringen kann – denn der Himmel fiele einem auf den Kopf – so verreist man husch hinaus in die Welt und lässt sich dort von Entertainern und Yogalehrerinnen die Zeit vertreiben, auf dass einem ja nicht langweilig werde. Blaise Pascal, der überaus kluge Mathematiker und grosse Philosoph des 17. Jahrhunderts schrieb einst, „dass das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“(Blaise Pascal. Gedanken. (Reclam) Stuttgart 1997. S. 95)
Nun: „Was also ist die Zeit?“ fragt Augustinus, der Kirchenvater aus dem 4. Jahrhundert. „Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiss ich’s nicht. Doch sage ich getrost: Das weiss ich, wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts käme, keine zukünftige, und wenn nichts wäre, keine gegenwärtige Zeit.“(Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. Elftes Buch. München 1992. S. 312)
Für die alten Griechen gab es keinen Anfang in der Zeit. Die monotheistischen Religionen setzten der Zeit einen Anfang durch Gottes Schöpfung und ein Ende durch die ewige Verdammnis oder den Einzug ins Paradies. Die Zeit der Welt war also eine Dauer zwischen Anfang und Ende, ein Abschnitt innerhalb der Ewigkeit. Isaac Newton bestimmte den Raum als unendlich in seiner Ausdehnung und die Zeit als ewig, wie die Griechen, aber unumkehrbar. 200 Jahre später warf Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie dieses Zeitverständnis über den Haufen. Heute gehen wir wieder davon aus, dass alles einmal begann, nämlich mit dem Urknall und alles einmal endet in einer endlich-unendlich ausgedehnten kalten und nach allen kosmischen Katastrophen übrig gebliebenen Teilchen-Suppe der ewigen Ereignislosigkeit.
Doch wo sind wir in der Weite der Weltzeit? Milliarden von Jahren nach dem Urknall und vor uns noch Milliarden von Jahren bis zum Ende des Universums. Doch lassen wir uns kurz ein auf dieses Gemäuer und seine Zeit. Als Cornelia und ich das erste Mal hierher kamen, das war schon vor einigen Jahren, spürten wir noch den Schauer gefrorener Zeit in diesen feuchten Mauern. Doch von Mal zu Mal wurde es weniger. Die Last der Vergangenheit wich mehr und mehr und die Unbestimmtheit, wohin es mit diesem Orte gehen will, lässt mit einem Male Freiheit atmen, wo einst ein scharfes Gefängnisregime regierte. Das kann uns etwas über die Zeit lehren. Sie verändert uns und alles um uns her. Sie ist Werden aus Gewordenem. Das Gewordene bestimmt uns. Das Werden entwerfen wir uns. Dazwischen liegt die Gegenwart der Freiheit im Augenblick.
Alles zu seiner Zeit: Heute nun ist ein Tag zum Feiern. Wir feiern Cornelias 60 gelebte Jahre und mehr als 40 Jahre ihres künstlerischen Schaffens, wovon wir hier eine Übersicht erhalten. Wie steht es nun mit der Zeit und der Kunst?
Vor vier Jahren feierte der Männerchor Buch, der heute diese Vernissage musikalisch begleitet, sein hundertjähriges Bestehen mit einem grossen Fest. Zum diesem Anlass beauftragte der Chor Cornelia mit einem Bild für die Festbühne. Sie hat dafür diese Füllhörner gemalt. Das Füllhorn ist ein antikes Symbol für Glück, Reichtum und Überfluss. Die symbolische Verbindung von Glück und Überfluss mit einem grossen Jubiläum ist naheliegend. Aus dem Füllhorn ergiessen sich Früchte und Blumen als das, was die Natur an Überfluss schenkt. Aber das Füllhorn steht auch für die Kunst, denn die Kunst hat keinen unmittelbaren Zweck, als dass sie uns erfreut und bereichert. Nun kann man sagen, weil sie keinen unmittelbaren Zweck habe, sei sie zwecklos und damit meint man dann schnell: sie habe keinen Wert. Doch das Umgekehrte ist der Fall. Erst, wenn wir die Zwecke erfüllt haben, werden wir frei und zur Freiheit drängt alles Gute hin und das ist der grösste Wert. Die Kunst – symbolisiert in den Füllhörern – ist jener freie Überfluss des Lebens jenseits der Notwendigkeit. Sie befreit uns von der uns determinierenden Zeitordnung. Erst wer sich der Kunst zuwenden kann, tritt aus dem Gefängnis der Notwendigkeiten hinaus in die Freiheit des Lebens. Dafür steht eben dieses Bild symbolisch und für das Glück, 100 Jahre singen oder 40 Lebensjahre lang malen zu können.
Zeit beschreibt uns – noch einmal – Augustinus, als wie ein Lied, das wir singen können. Wir haben das Lied gelernt. Wir erinnern uns an seinen Text und seine Melodie, aber dieses Erinnern ist nicht in der Art einer Liste oder eines Bildes, sondern es ist ein Ganzes, das sich aus einer nahen Vergangenheit im Stillen noch in einer nahen Zukunft vorstellt, aber erst im Moment, wo wir es anstimmen, sich in der Gegenwart erfüllt. Doch diese Gegenwart ist nicht ein Punkt, sondern eine Spanne, ein Sattel. Hirnforscher gehen davon aus, dass wir die Gegenwart als ungefähr drei Sekunden wahrnehmen. Das Lied – und das ist die Magie der Musik – dehnt diese kurze Dauer aus, weshalb ich hier ende und das Wort wieder für die Spanne eines langen Augenblicks dem Gesang überlasse und Euch, die Ihr Euch hier versammelt habt, Eurer eigenen Zeit.